Rainald Simon: Übersetzter & Herausgegeber des “Daodejing” / Reclam
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Kapitel 14

“Wenn man nach ihm [Dao] ausschaut,
es aber nicht sieht, das heißt farblos.
Wenn man nach ihm lauscht, es aber nicht hört,
das heißt unhörbar.
Wenn man es an sich nehmen möchte, es aber nicht greifen kann,
das heißt ungreifbar.
Was diese drei Eigenschaften angeht, so ist es nicht möglich,
dem erschöpfend nachzugehen.
Deshalb gilt: Sie mischen sich und bilden Eines.
Sein Oberers ist nicht blended hell, sein Unteres ist nicht finster,
grenzenlos ist es und kann nicht benannt werden.
Es wendet sich wieder zurück in [einen attributslosen] Zustand
ohne etwas Materielles an sich.
Dies heißt die Form des Formlosen.
Die Gestalt dessen, das nichts Dingliches an sich hat,
heißt Unbestimmtheit.
Geht man ihm entgegen, sieht man nicht seine Spitze.
Folgt man ihm, sieht man nicht sein Ende.
Man sollte das Dao der Vergangenheit ergreifen,
um das Sein der Gegenwart zu leiten.
Ist man in der Lage, der Vergangenheit Beginn zu erkennen,
dann heißt das >Gesetzmäßigkeit des Dao<.”


KOMMENTAR PAUL MANN:

Eines der ältesten Texte des Advaita/Non-dualismus besteht aus lediglich sechs Wörtern. Übersetzt sind es zwar ein paar Wörter mehr, da die simpleste Form nur in der tibetanischen Sprache möglich ist. Es handelt sich um eine Überlieferung eines Yogi namens Mahasiddha Tilopa. (Inspiriert durch eine Meditation von Jayasara)

Passend zu diesem Kapitel finde ich diese, da das Grenzenlose, nicht Wahrnehmbare, jedoch Existente Dao, durch die folgenden “Die sechs Nägeln” erahnbar wird. Mit Worten kommt man da natürlich nicht weit. Es ist so ähnlich, wie, als würde man einem Fisch erklären, dass er im Wasser ist.

  1. Versuch dich nicht zu erinnern / Lass los von dem was vergangen ist.
    Sich dem Dao zu nähern, kann man zunächst durch eine Art Verneinung von dem was man nicht ist. Man ist z.B. nicht all die Gedanken und Erinnerungen der Vergangenheit. Sie kommen einfach nur hoch. Eine meditative Übung ist, dass man auf den Teil in sich der Gedanken beobachten kann den Fokus legt. Ungefähr so, als wenn man vor einem Schaufenster steht und den Fokus zwischen dem was dahinter ausgestellt ist und der eigenen Reflektion im Glas, wechselt. Man kann dies bei intensiven Gedanken üben, wo man den Fokus mehr auf das Beobachten, als auf den Inhalt der Gedanken, lenkt. Auf diese Weise befolgt man auch Tilopas Ratschläge und erahnt die Grenzenlosigkeit des Dao.Was speziell den ersten Ratschlag betrifft, so ist der Schlüssel die Gedanken der Vergangenheit nicht zu frönen. Weder im Sinne von Selbstmitleid über das was passiert ist, noch Stolz welchen man über vergangene Erfolge bezieht. Oder Schuldgefühle, Vernachlässigungen, alte Ziele, Ambitionen, Vorstellungen, etc.Die Vergangenheit ist nur ein Konzept, sie existiert einfach nicht. Ist personalisiert und verwirrt den Geist. Sie ist ein Traum, welcher vom gegenwärtigen Moment ablenkt.
  2. Versuch dir nichts vorzustellen. / Lass los von Hoffnungen und Ängsten.
    So wie die Vergangenheit, so ist auch die Zukunft nur eine Vorstellung und eine Projektion der erlebten Erfahrungen. Also eine Form der Illusion. Ein sich übermässiges befassen mit der Zukunft führt zu einem nervösen Gemüt, Depressionen und Ängsten. Auch wenn sich z.B. Vorstellungen über die Zukunft bewahrheiten mögen, so ist das trotzdem kein Garant dafür, dass andere Vorstellungen sich ebenso bewahrheiten. Auch diese Art der Vorstellung vernebelt Klarheit des Moments.Zukunft ist ein weiteres Konzept, basierend auf Sehnsüchten und Ängsten. Man kann sich davon befreien, wenn man versucht sich kein Bildnis der Zukunft zu machen. Wenn Gedankenbilder und Gefühle trotzdem auftauchen, kann man sie, ähnlich wie bei Gedanken aus der Vergangenheit, den Fokus auf das Beobachten lenken. Auch anhand des Körpers kann man sich orientieren, da eine Art Spannung, oder gar Stress, spürbar ist, wenn man den Vorstellungen nachhängt. Eine Entspannung tritt ein, wenn man von diesen loslässt.
  3. Versuch nicht zu denken. / Lass los von dem was in der Gegenwart passiert.
    Dieser Ratschlag scheint natürlich paradox, da so ziemlich alles während unserer Schulbildung gerade auf das Denken und Leistungen aus diesem, ausgerichtet war. Um aber nicht aus den Vorstellungen der Vergangenheit, oder den Ängsten der Zukunft heraus zu reagieren, gilt es den Denkprozess im gegenwärtigen Moment nicht als Motivator zu benutzen. Es können natürlich auch da Ideen und Vorstellungen einkehren, auch bei diesen gilt es den Fokus zu wechseln. Meistens sind es versuche auf das was gerade passiert eine Art Bewertung zu geben. Ist es ein “Like” oder “Dislike”? Gut oder Schlecht? Kenne ich das schon, oder ist mir das fremd? In welche Schublade stecke ich diesen Menschen, diese Situation, diesen Gedanken? All das sind Ablenkungen des Geistes vom eigentlichen Moment. Um wieder die Metapher des Schaufensters zu bedienen, anstatt zu sehen was eigentlich vor einem im Schaufenster ist, liegt der Fokus auf dem wovon Gedanken und Konzepte ablenken, also auf der eigenen Spiegelung im Glas.Meiner Erfahrung nach, kommen oft in den unmöglichsten Situationen in denen man sich wiederfindet, spontane Lösungen, oder passende Worte, auf welche man nie im Traum gekommen wäre. Um diese Spontanität zu erlauben, ist es hilfreich den Geist so klar wie nur möglich zu halten. Wenn uns die Zwanghaftigkeit des Konzeptualisierens, sofort Lösungen findens und Bewertens bewusst werden, lösen sich auch hier die Spannungen im Köper.
  4. Versuch nicht zu examinieren. / Lass los von der Analyse.
    Sei wie ein Kind, dass voller Überraschung etwas Neues entdeckt. Vor allem dann, wenn es Situationen, Menschen und Handlungen betrifft, die man glaubt durchschaut zu haben. Nicht nur, dass man auf diese Weise erst gar keine Vorurteile bildet, es ist auch tatsächlich immer eine neue Situationen. Wie Heraklit es bestätigt, „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.” Es mag äußerlich so scheinen, dass es derselbe Fluß ist, doch sowohl Wasser als auch Zeit sind vergangen, also ist man nicht mehr derselbe Mensch. Hat nicht mehr dieselben Gefühle, Gedanken und Haltungen. Menschen in Schubladen zu stecken, an Gewohnheiten festhalten, Situationen sofort zu analysieren, sich eine Meinung über etwas zu bilden, sind alles Ausdruck von Kontrollezwang, dahinter verbirgt sich Angst.Sei mutig, nicht zu wissen was als Nächstes passiert. Wenn du aufhörst zu analysieren, oder nachzudenken, bedeutet es NICHT, dass du dumm, oder ignorant bist. Du machst nur Platz für eine tieferes Verstädnis, jenseits von Konzepten. Ein Verständnis dass non-verbal, zu einer Klarheit, einem A-ha führt. Vergleichbar mit dem Gefühl ein Rätsel gelöst, eine komplizierte Formel verstanden, die Pointe von einem Witz kapiert…, zu haben. Versuch also nur zu beobachten, ohne dabei gleichzeitig zu analysieren.
  5. Versuch nicht zu kontrollieren. / Lass los vom Materialisieren.
    Auch dieser Ratschlag ist so ziemlich Gegenteil davon, was von uns in der westlichen Kultur erwartet wird. Es geht fast bei jeder Arbeit um sichtbare Ergebnisse und Ziele, welche es zu erreichen gilt. Bei der Meditation, aber auch in Beziehungen, kommt man in Versuchung nach bestimmten Situationen, Zuständen und Gefühlen sich zu sehnen. Dahinter versteckt sich Unzufriedenheit. Man erwartet, dass etwas anders ist, sich anders anfühlt und lenkt dementsprechend die Aufmerksamkeit ab. Der Körper versteift sich, Gefühle frieren ein, da hier Kontrolle am Werk ist, die etwas anderes einfordert, als das was in dem Moment der Fall ist.Wir können von diesem innerem Aufseher loslassen Von dem Teil der glaubt, man hätte Kontrolle über Menschen und den Lauf der Dinge. Anstatt das Lenkrad des Lebens verkrampft festzuhalten, kann man auf dem Hintersitz des Autos gemütlich Platz nehmen. Und die Aussicht der Reise bewundern, ohne zu meinen, dass hier oder da ein Baum, Berg oder Haus in der Landschaft fehlt.
    Wenn wir diese automatisierten Kontrollmechanismen in uns entdecken, bemerken wir ebenso, wie sehr das unseren Körper beansprucht. Wie verkrampft und verspannt uns das macht.
  6. Ruhe dich aus. / Sei entspannt, im Hier und Jetzt.
    Versuch dich in jedem Moment zu entspannen, gerade auch dann, wenn es stressig wird. Ob du nun auf den Bus wartest. Oder einen Zug verpasst hast. Dich jemand beleidigt, hintergangen, oder verlassen hat. Es macht an sich keinen Unterschied, ob Depression oder Freude, denn das Bewusstsein, der Beobachter, die Leinwand auf welcher dein Leben abläuft, ist immer dieselbe. Ohne Alter, ohne Form, ohne Anfang und Ende. Wie das Dao. Es ist da, aber trotzdem nicht greifbar.Man kann sich sowieso nicht an weltlichen Begegbenheiten und Dingen festhalten, oder Situationen von sich wegschieben. Also, wieso diese pausenlose Versuche?! Es gibt an sich nichts zu tun. Dinge entstehen, wenn man es genau beobachtet, aus einer inneren Motorik heraus. Ist man im Moment, so passiert das was man zu tun hat, ohne viel Aufwand. Gerade ein bewußtes Nicht-Tun ist für uns verdammt schwierig. Und ist nicht zu verwechseln mit sich von Pflichten drücken, oder dem Alltag abzulenken. Nämlich auch das, wäre kein bewußtes Ruhen. Nur eine andere Form von Stress. Gebe dir die Erlaubnis dich vollkommen zu entspannen. Lege die Last ab, welche du von Tag zu Tag mit dir schleppst. Und Ruhe im Dao, im Dasein.