Filmstil: “Drive” / Regie: Nicolas Winding Refn

Was bedeutet es für einen, wenn man sich seiner Archetypen bewusst wird?

Dazu zunächst eine Fabel zur Illustration: “Es regnete stark auf einer Insel, sodass diese zu untergehen drohte. Ein Frosch machte sich gerade auf den Weg, um an das gegenüberliegende Festland zu kommen, als ein Skorpion auf ihn zukrabbelt. Erschrocken sprang der Frosch sofort ins Wasser und war bereit loszuschwimmen, doch der Skorpion rief nervös hinter ihm: “Halt, bitte nimm mich mit. Ich werde hier sonst ertrinken!” Stutzig von dem für einen Skorpion ungewöhnlichen Verhalten wurde der Frosch langsamer. Nach kurzer Überlegung schwamm er zurück Richtung Skorpion. “Dumm wäre ich!”, sagte er aus sicherer Entfernung. “Du bist doch ein Skorpion und würdest mich stechen.” Der Skorpion kroch näher zum Wasser und er drohte schon fast ins Meer zu fallen. “Das macht doch keinen Sinn, dich zu töten. Ich würde ja selber sterben.”, entgegnete er verzweifelt.
Der Frosch leuchtete das ein und sprang kurz darauf, überzeugt von der Notlage, ans Ufer. Ohne weitere Bedenken bot er dem Skorpion seinen Rücken an. Dankbar krabbelte dieser auf den Frosch und die beiden machten sich auf den Weg zum Festland. Doch plötzlich, mitten im Wasser, stach der Skorpion den Frosch in den Rücken. Das Gift wirkte sofort. Mit seinen letzten Atemzügen fragte der verwirrte Frosch den Skorpion: “Warum hast du das getan? Nun wirst du doch selber auch sterben?!”

Der Skorpion antwortete: “Ich weiß, nur liegt es nun mal in meiner Natur dich zu stechen.”

In der Geschichte findet man ein Beispiel für die Interaktion zweier Archetypen, welche anhand ihrer Instinktnatur bestimmten Verhaltensmustern folgen. Einfachheitshalber könnte man sagen, dass ein Mensch durch Prägungen, sozialen Status, Charakterdisposition, etc. gelernt hat, sich wie ein Skorpion zu verhalten; sich mit einer bestimmten Ego-Muster-Struktur zu identifizieren. Gerät ein vom Archetyp besessener Mensch, wie die Geschichte es thematisiert, in eine Depression, dann bezieht er gerade aus seiner Rolle Kraft. Würde also eher Menschen, die wiederum aus ihrem archetypischen Muster heraus helfen wollen, wohl eher bemitleiden, innerlich verhöhnen oder gar in Gefahr bringen, anstatt sich helfen zu lassen. Das erscheint objektiv kontraintuitiv, doch leicht ablesbar an alltäglichen Verhalten wie Drogenmissbrauch, Esssucht, Gewaltausdruck, Statusidentifikation, Probleme beim Berufswechsel (durch die Gewohnheit und Identifizierung mit einer bestimmten Tätigkeit), Loslassen der Vater- und Mutterrolle (wenn Kinder erwachsen werden), Unhöflichkeit von vereinsamten Menschen, Suizid, etc. Jegliche Handlung, die auf einer starken emotionalen Reaktion beruht oder durchanalysiert und überrational getätigt wurde, entspringt einem Archetypmuster. Diesem gehört sowohl das Herz als auch der Verstand des getriebenen Menschen.

Die Angelegenheit wird durch die Tatsache, dass in einer Person mehrere Archetypen am Werk sind UND dass prinzipiell ein Zugang zu allen Archetypen besteht, in ihrer Komplexität noch weiter verstärkt. Man ist z.B. Vater, Rechtsanwalt und Machiavellist. Die Rolle des Vaters gibt bestimmte Verhaltensmerkmale vor, der Beruf bringt u.a. die Notwendigkeit mit sich, Durchsetzungsvermögen zu entwickeln, und Machiavellismus kann z.B. von den Eltern angelernt sein. Üblicherweise, wenn der Mensch keinen Bewusstseinsprozess durchmacht, wirken all diese Rollen unbewusst. Wie im letzten Absatz angesprochen, werden diese anhand von Emotionen gelenkt und eingefahrene Ego-Muster zum Gunsten der archetypischen Energie bequem rationalisiert. So wird ein zutiefst mit seinen Rollen identifizierter Mensch nach einiger Zeit leicht durchschaubar. Da er, wie eine Straßenbahn, nur bestimmte Verhaltensschienen benutzt.

Weiterhin kann eine Begegnung mit einer Person oder ein plötzlicher Wechsel einer Lebenssituation vollkommen neue bzw. schlafende Archetypen, also Verhaltens- und Fühlmuster, ins Leben rufen. Sich seiner archetypischen Rollen bewusst zu werden, macht jedoch noch nicht automatisch den besseren Menschen aus. Man könnte z.B. getrost sagen, dass ein Mafiaboss ganz genau weiß, was er tut. Er tut es aber trotzdem, weil Zeit und Ort ihn in seine Rolle gedrängt haben. Verstrickung in mafiöse Geschäfte wird die archetypischen Qualitäten noch verstärken. Man kann hier also auch von Schicksal und Bestimmung mancher Rollenbilder sprechen. Wer Bewusstsein entwickelt hat, hat jedoch in manchen Fällen mehr Auswahlmöglichkeiten im Verhaltenskatalog. Kann Katastrophen, wie durch Affektreaktionen möglich gemacht, ausweichen. Oder Verhalten anderer Menschen anhand ihrer archetypischen Muster voraussehen und dementsprechend Vorkehrungen treffen.

Wichtig zu erkennen ist, keine Rolle ist ethisch besser oder schlechter als die andere. Es ist ein Zusammenspiel. Der Frosch bedingt den Skorpion und vice versa. Es zeigt aber auch, welche wichtige bewusstseinsfördernde Rolle Geschichten in unserem Leben haben. Märchen, Mythen, Sagen, Legenden und biblische Schriften bilden ein Netzwerk universeller, zeit- und ortunabhängiger Orientierung in der Welt der Psyche. Welche Rolle in welchen Menschen nun am stärksten wirkt, welcher Anteil Oberhand gewinnt, ist eine Mischung aus Selbstgewahrsein, Willensstärke und dem improvisierten Drehbuch der Sterne.

Link zum Quorabeitrag