Rainald Simon: Übersetzter & Herausgegeber des “Daodejing” / Reclam
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Kapitel 2

“In der Welt

weiß jeder, was die Schönheit des Schönen ausmacht:
Wahrlich, dies ist das Hässliche.
Jeder weiß, was die Güte des Guten ausmacht:
Wahrlich, es ist das Ungute.

Deshalb
bringen sich Sein und Nicht-Sein wechselseitig hervor,
vollenden sich Schwer und Leicht wechselseitig,
gestalten sich Lang und Kurz wechselseitig,
messen sich Oben und Unten wechselseitig,
passen sich Tonhöhe und Klangfarbe wechselseitig an,
bestimmen vorne und hinten ihre Reihenfolge wechselseitig.

Aus diesem Grund beschäftigt sich der Vollkommene
mit Angelegenheiten des Nicht-Eingreifens
und führt die Lehre des Nicht-Redens aus.
Was die zehntausend Dinge angeht, so handelt er in ihnen
und äußert sich nicht.
Sie entstehen, doch er will sie nicht in Besitz nehmen.
Er handelt, doch stützt er sich nicht darauf.
Er vollendet seine Leistungen, doch bleibt er nicht [dabei].
Nur wenn er nicht da stehen bleibt,
entfernt er sich gerade dadurch nicht.”


KOMMENTAR:

Die Kernaussage dieses Kapitels ist eine Warnung vorm einseitigen Streben, Urteilen und Begehren. Ob Ereignisse, Beziehungen, Bezug zu Objekten, Sehnsüchte,… alles ist dem Wandel unterworfen. In dem Moment wo man z.B. ein Ziel erreicht, oder sich in einer Beziehung aufgehoben fühlt, verändert sich die Haltung. Möchte man das was man erreicht oder gefunden hat, festhalten, machen sich Leichtsinn, Eifersucht, oder gar Hass, breit. Man erkennt diesen Wandel auch anhand von politischen Ideologien, Modetrends und Kunstrichtungen. Kaum etabliert sich etwas, wird schon nach “dem Neuen” gesucht und das Alte in Frage gestellt.

Man kann an diesem Wandel entweder zerbrechen, oder versuchen sich “mit dem Fluss” zu verändern. Durch genaue Beobachtung der eigenen Emotionen gilt es herauszufinden, ob nun eine Zeit des Festhaltens, oder des Loslassen ansteht.

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