Rainald Simon: Übersetzter & Herausgegeber des “Daodejing” / Reclam
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Kapitel 15

Kapitel 15

“Diejenigen alter Zeiten, die Dao auszuüben in der Lage waren,
durchdrangen das Kleinste und die Verästelungen
auf mystische Weise,
was ihre Tiefe angeht, so konnte sie nicht erkannt werden.
Wenn sie nun aber nicht erkannt werden kann,
dann ist man daher gezwungen, ihnen ein Gesicht zu geben:
Zögerlich waren sie, oh, wie wenn einer im Winter über einen Strom geht,
zaudernd waren sie, oh, wie wenn einer seine vier Nachbarn
fürchtet,

ernsthaft waren sie, oh, wie wenn einer ein Klient wäre,
freudig waren sie, oh, wie wenn das Eis sich aufzulösen begänne,
aufrichtig waren sie, oh wie unbearbeitetes Holz,
weit offen waren sie, oh wie ein Tal,

unklar waren sie, oh, wie ein verschmutztes Wasser,
wer kann schon trüb sein und doch zur Rühe gelangen und
allmächlichen Klarheit?

Diejenigen, die dieses Dao in sich bargen, hegten keinen Wunsch
nach Überfülle.
Wer nun aber nicht übervoll ist,
ist in der Lage sich zu verbergen und sich doch aufs Neue
zu vollenden.
Wer kann schon ruhig sein und sich doch in Bewegung versetzen
und allmählich etwas hervorbringen?”


KOMMENTAR PAUL MANN:

So wie man sich von Gott kein Bildnis machen sollte, so wird hier auch recht eindringlich dargestellt, wie es sich mit einem physischen Bild machens vom Dao verhält. Interessant ist der Hinweis, dass wenn etwas nicht erkannt wird, dass man sich eben gerade deshalb ein Bild davon machen muss:

“Wenn sie nun aber nicht erkannt werden kann,
dann ist man daher gezwungen, ihnen ein Gesicht zu geben.”

Hier muss ich eben unweigerlich an die Gesichtsgebungen Gottes denken. Der alte zornige Mann im Himmel, der sich heute auch in der Gestalt des Weihnachtsmannes der Coca Cola trinkt, zeigt. Das Anbeten vom Goldenen Kalb im alten Testament. Der Turmbau von Babel. Ja, sogar die Kreuzigung von Jesus Christus, aus dem Grund, weil er meinte der Sohn/Gesicht Gottes zu sein. Auch in den christlichen zehn Geboten heißt es gerade in den ersten Beiden eindringlich:

“Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
Du sollst dir kein Gottesbild machen.”

Was man zwar natürlich auch als eine Regel der Exklusivmitgliedschaft ansehen kann, so steckt aber dahinter die Voraussicht, dass alles worauf man etwas Metaphysisches projiziert, die Gefahr in sich birgt, korrupt zu werden. Die katholische Kirche selbst ist hierbei ein sehr gutes Beispiel, da deren Existenz von politisch-konservativen Kräften ausgehöhlt wurde. In dem Moment wo man der Kirche eine politische Agenda, also ein konservatives Gesicht, ansehen konnte, wurde sich unglaubwürdig und zur Angriffsfläche der liberalen Gegenkraft.
Nur um das eigentliche Thema, im Sinne der Spiritualität, geht es dabei schon lange nicht mehr. Auch bei den Zusammenkünften in Kirchen nicht. Es wird, um Zusammenhalt vorzutäuschen, polarisiert, politischer Aktivismus betrieben und Schuldgefühle generiert. Und das alles im Namen Gottes, da dies ja im Hause Gottes, stattfindet.

Das Daodejing weist auf diese Gefahr in subtile Weise hin:

“Zögerlich […] wie wenn einer im Winter über einen Strom geht.”

Sich des dünnen Eis und der Kräfte des Flusses bewußt, zu welchen kollektiven Ausmaßen solch Gesicht geben führen kann. Unter diesem Aspekt wird auch klar warum in den zehn Geboten selber, und das auch so eindringlich und am Anfang, darauf hingewiesen wird. Gott/Dao nicht auf Bildnisse, Statuten, Menschen, Institutionen, Politik, Wissenschaft, etc. zu projizieren.

Mit den vier Nachbarn sind, schätze ich, die Kräfte der vier Himmelsrichtungen und deren Assoziationen gemeint.

Klient / Materie / Norden
Luft (offenes Tal) / Intellekt / Osten
Holz / Wille / Süden
Wasser / Emotion / Westen

Mag sein, dass ich hier ein wenig über den Tellerrand schaue, nur auch im I GING wird den Himmelsrichtungen eine besondere Relevanz zugeschrieben. Insofern, halte ich es für hilfreich den vier Nachbarn, vorrübergehend ein Gesicht zu geben.

Im Text wird Ernsthaftigkeit im Bezug zum Klient angesprochen, also das sich anpassens an das menschliche Tauschgeschäft, was konkret, also materiell ist.
Die Freude beim Auflösen von Eis, beides Freude und Eis, kann man der Gefühlswelt zuordnen. Man sagt ja auch, wenn sich zwei Menschen zu verstehen anfangen, das Eis sei gebrochen.
Zunächst scheint Aufrichtigkeit mit Holz nicht viel gemeinsam zu haben, nur wenn man die Assoziation der südlichen Himmelsrichtung einbezieht, was die Willenskraft, also das innere Feuer des Menschen symbolisiert, macht der Begriff dann schon mehr Sinn. Denn gerade in der Handhabung der Willenskraft ist Aufrichtigkeit notwendig, sonst führt diese ins Verderben.
Das offene Tal, kann man ruhig als das Bildniss eines klaren Geistes, welcher ungetrübt Weitsicht einnehmen kann, deuten. Es ist die höchste Qualität des Intellekts, menschliche Aktivitäten in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und darüber einen Überblick zu haben.

Jeder Mensch wird durch diese vier Nachbarn beeinflußt, so stark, dass man das Wirken des Dao im Hintergrund nicht mehr als solches wahrnimmt. Diese Nachbarn werden, wenn man das dahinter wirkende Dao vergißt, zu falschen Gesichtern, was zu der erwähnten Furcht und letztlich Unklarheit, basierend auf Erwartungshaltungen und Ängsten führt.

“Zögerlich waren sie, oh, wie wenn einer im Winter über einen Strom geht,
zaudernd waren sie, oh, wie wenn einer seine vier Nachbarn
fürchtet […]

[…] unklar waren sie, oh, wie ein verschmutztes Wasser,
wer kann schon trüb sein und doch zur Rühe gelangen und
allmächlichen Klarheit?”

Erst wenn sich der Schmutz im Wasser am Boden setzt, wird dieses klar. Erst wenn sich Gedanken und Emotionen im Geiste des Menschen setzen, hat man einen klaren Kopf.
Die restlichen Zeilen finden ihren Höhepunkt in der rethorischen Frage:

“Wer kann schon ruhig sein und sich doch in Bewegung versetzen
und allmählich etwas hervorbringen?”

Auch hier lautet die Antwort “Na, das DAO!”. Ist aber eines der komplexesten Hinweise was das Wirken des Menschen in seiner Umgebung betrifft. Denn einerseits ist es nicht möglich sein Leben aus kompletter Passivität aufzubauen. Auch dazumal mußte man auf Jagd gehen, oder ebenso wie heute, eine Arbeit leisten, um sich ernähren zu können. Andererseits führt eine übermässige Aktivität und Selbstbehauptung des Menschen zur Disharmonie und psychischem Stress. Es ist ein Paradox, dass jeder für sich in seiner Umgebung und Rolle die er in der Gesellschaft spielt, anpacken muss.

Als Künstler kann man dies sehr gut anhand des Schaffensprozess erkennen. All die Projekte zu welchen man sich zwingt, welche der Egomanie entspringen und dieser dienlich sind, werden über die Zeit uninteressant. Sie verlieren schon in dem Moment an Substanz, während man sie finalisiert. Es ensteht sogar eine Art Frust und Scham, sodass man manches gar nicht mehr zeigen möchte, oder bewusst ausläßt im Portfolio.
Doch all die Projekte, mögen sie technisch unsauber, oder gar noch unprofessionell sein, aber die aus einer Liebe zur Sache an sich, oder aus einem Flow-zustand der Betroffenheit, Dringlichkeit und Freude heraus, entstanden sind, behalten ihren Zauber.

Der Flow-zustand der Kreativität hat eine Bewegung, welche von alleine, aus einer Art Ruhe, hervortritt. Damit ist nicht Unbeweglichkeit gemeint und kann sich sogar oberflächlich als Erregung oder gar Stress zeigen (schmutziges Wasser), nur die Intension dahinter, die ist frei von Eigennutz, frei von der Angst vor den vier Nachbarn, frei von einer bewussten Endverwertung. Also im Einklang mit dem Dao.