Rainald Simon: Übersetzter & Herausgegeber des “Daodejing” / Reclam
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Kapitel 12

“Die Fünf Farben lassen des Menschen Augenlicht erblinden,

die Fünf Tonarten lassen des Menschen Gehör taub werden,
die Fünf Geschmacksrichtungen lassen des Menschen Mund
abstumpfen,
die Jagd im rasenden Galopp lässt des Menschen Geist
außer Rand und Band geraten,
schwer zu erlangende Güter lassen des Menschen
Handlungsweisen Schaden nehmen.
Was demzufolge den Vollkommenen angeht,
tut er alles für die Bäuche und nichts für den Augenschein.
daher weist er jenes von sich und ergreift dieses.”


KOMMENTAR:

Laozi warnt hier sowohl den König, als auch den Sklaven vor Komfort, Reichtümern und Lebensgenuss. In anderen Worten: “Vor Abhängigkeiten.” In unserer ICH-zentrierten und genußorientierten Zeit erscheint dies fast schon naiv und verwegen. Jedoch hatte ich in meinem Leben die Erfahrung beider Lebenslagen. Sowohl Reichtum, als auch Armut lernte ich kennen. Und die damit in Verbindung stehenden Abhängigkeiten. Vorerst war es die Abhängigkeit an die Eltern, also “deren” Lebensstandart für sich selber aufrechterhalten, bzw. ebenso beanspruchen zu wollen. Es verwirrte mich sehr, dass meine Eltern selber eine recht dubiose Haltung hatten, was nämlich “ihnen” und was “der Familie” zustand.

Wobei mit Armut meine ich Geldsorgen und Wohnschwierigkeiten wie man sie in westlichen Ländern erleben kann, meine. Armut in Entwicklungsländern sieht selbstverständlich ganz anders aus. Die Art wie Menschen einander behandelten erschien mir aus beiden Perspektiven als grausam. Sowohl der reiche, fast schon verhöhnende, Blick auf den Armen ist grausam und entmenschlichend, als auch der verwurfsvolle und sich nach Erleichterung sehnende Blick des Armen nach Reichtümern. In beiden Fällen ist es eine Art Unwillen den gegenwärtigen Moment und die zugewiesene Situation zu akzeptieren. Und kann in beiden Fällen zu Abhängigkeiten führen, wie Drogensucht, oder die Sucht nach mehr Ansehen, Geld und Macht. Das “zuviel Gaben” trübt den Blick für das was man hat. Auf eine ähnliche Weise wie das “Zuwenig haben” das was man Verfügung hat, abwertet. Es ist quasi “nie genug”.

Noch komlizierter wird es, wenn Laozi auch noch vor Kunst, Musik, Brot & Spiel, sowie gutem Essen warnt. Man könnte meinen, dass er diktatorische Verhältnisse, wie z.B. in Nordkorea befürwortet. Die letzten paar Zeilen jedoch fassen zusammen, dass man auf das körperliche Sättigungsgefühl achten möge und nicht den Geist durch Appetit auf jedweilige Sinneseindrücke bzw. exotische Erfahrungen zu verwirren. Wer einige Zeit mit sich selbst wichtig nehmenden Künstlern, Schauspielern und Prominenten Menschen verbracht hat, weiß jedoch, dass die sich durch Künste identifizierende Geister einem gepflegten Lebensüberdruss anhängen.

Dieser Gefahr bin ich Nahe gekommen. Zunächst erkennt man dies natürlich nicht als Gefahr, sondern als eine Art von Erleichterung. Nur man bemerkt dass der zwischenmenschliche Umgang unter Wohlhabenden ganz anders ist, als unter Menschen mit gleichem Einkommen. Es wird mehr gedacht und auf mehr Regeln geachtet, was schon zwangsläufig zu einer Spaltung zwischen dem wer/was man ist und dem wie man zu sein hat, führt. Der Blick eines Armen Menschen auf jemand der reich ist, eröffnet ein breites Spektrum zwischen Bewunderung, Idealisierung, Neid bishin zu Missgunst. Solch Projektionen auszuhalten und seinen Charakter nicht korrumpieren zu lassen, ist nicht jedermanns Angelegeneheit. Was auf beiden Seiten zu Missverstädnissen und Konflikt führt.

Laozis Weitsicht nimmt dies vorweg.

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