Rainald Simon: Übersetzter & Herausgegeber des “Daodejing” / Reclam
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Kapitel 13

“Anerkennung [und] Schande sind wie Schrecknisse.

Schätzt man ein großes Unglück hoch ein,
ist das, als ob man seine Person hoch einschätze.
Was besagt: >>Anerkennung [und] Schande sind wie Schrecknisse?<<
Anerkennung gilt als hoher [Wert], Schande als niedrigster.
Erlangt man sie, ist es wie ein Schrecknis, verliert man sie,
ist es wie ein Schrecknis.
Dies wird >>Anerkennung und Schande sind wie Schrecknisse<<
genannt.
Was besagt: >>Schätzt man ein großes Unglück hoch ein?<<
Der Grund dafür, dass wir großes Unglück haben,
liegt darin, dass wir eine Persönlichkeit haben.
Und wenn ich keine Persönlichkeit hätte, welches Unglück
sollte ich dann haben?
Deshalb gilt: Schätzt einer es hoch, mit seiner Person
der Ökumene zu dienen,
dann kann man dem die Ökumene* >>senden<<.
Liebt es einer, mit seiner ganzen Person für die Ökumene
zu wirken;
dann kann man dem die Ökumene anvertrauen.”

*Als Ökumene bezeichnet man z.B. ein bewohn- oder landwirtschaftlich nutzbares Stück Erde.

In der Übersetzung zum Text wird hingewiesen, dass sich hier einige Kommentare zum Text, als Daodejingverse eingemischt haben könnten. Da Selbstreferenzielles üblicherweise nicht Inhalt des Daodejing ist.


KOMMENTAR PAUL MANN:

Der Vers konzentriert sich auf den gesellschaftlich akzeptierten Orientierungen des Ego’s “Anerkennung & Schande”. (Wobei es, z.B. in linkslastigen Gruppierungen, oder bei Frauen die ihre Liebe für Serienmörder entdecken, auch eine Art Anerkennung, oder zumindest Faszination, für Schande gibt. Jedoch handelt es sich in dieser Hinsicht wohl um dasselbe Prinzip, weswegen Inhalt Laozis Warnung “erst recht” gilt.)

Das Absurde an dem Ego ist ja, dass man es mit einem Geistwesen zu tun hat. Und in dem Moment wo man feststellen könnte, dass das eben eine Illusion ist (allein schon die Art ein Selbstgespräch zu führen, oder wie hier, “darüber zu schreiben”) überkommt einen der Zweifel, was nun real ist und was nicht. Das Geschriebene Wort macht da keinen Unterschied, jedoch ist es eine Art “Beweis”, dass ja irgendwer “in mir” diese Sätze schreiben muss. Also dabei ist zu versuchen sich selbst zu beschreiben.

Ego-identifizierung ist in unserer westlichen Welt jedoch so dermaßen normal, dass man es zunächst durch diesen Teil der Entwicklung “schaffen muss”, um genau das erkennen zu können, was “das Ego” ja verhindern möchte. Es gibt nichts zu erkennen, aber genau das gilt es zu erkennen.

Es wird durch westliche Schulbildung suggeriert, dass man Dinge nachahmen und nachsprechen soll. Was kann man auf diese Weise lernen? Es werden lediglich Ideen, Ideologien und Vorstellungen aufrechterhalten. Unbekanntes, wird so bekannt gemacht.
Der Körper als eine Art Wohnort angesehen, wo Schmerzen verhindert und Wohlbefinden genährt wird. Schmerz ist schlecht, Zärtlichkeit gut. Was jedoch, bei genauer Beobachtung, zu mehr Schmerzempfindlichkeit und Lethargie, also insgesamt zu Unzufriedenheit führt.

So ziemlich alles was “das Ego” erstrebt und womit es sich identifizieren will; verdeutlicht sich u.a. an Körperreaktionen, Gedanken- und Gefühlsmustern, führt zu Problemen. Dies zu erfahren dauert einige Zeit, da man, wenn man sich einräumt Fehler zu machen, man ja endlos viele Versuche anstellen kann um “erfolgreich” zu werden. Bzw. um “erfolgreich zu bleiben”. Anhand meiner Schulbildung und Karriere in der Filmindustrie konnte ich dieses Phänomen sehr gut beobachten.

So ziemlich alles worum es in dieser Branche geht, beruht auf Analogien, Symbolismus, Vorstellung und Illusion. Nichts von all dem ist real und dennoch formt es die Realität.

“Die Illusion des Egos dauert so lange an, solange man meint einen freien Willen zu haben.”
– Ramana Maharshi

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