Rainald Simon: Übersetzter & Herausgegeber des “Daodejing” / Reclam
Bildrechte: Gemeinfrei

Kapitel 1

“Dao – kann es ausgesagt werden,

ist nicht das beständige Dao.
Der Begriff, kann er definiert werden,
ist nicht der beständige Begriff.

Was ohne Begriff ist, ist Anfang von Himmel und Erde.
Was einen Begriff hat, ist Mutter der zehntausend Dinge.

Wenn man daher beständig [im] Nicht-Dasein [ist] besteht der Wunsch, dadurch seine feinen Verästelungen
zu erkennen.
Wenn man beständig [im] Dasein ist,
besteht der Wunsch, dadurch seine Grenzen zu erkennen.

Diese beiden [Dao und die Begriffe] treten zusammen hervor
und haben unterschiedliche Bezeichnungen;
beides gemeinsam heißt mystisches Dunkel.
Mystisch Dunkles des mystisch Dunklem:
aller feinen Verästelungen Tor.”


KOMMENTAR:

Der erste Vers fängt schon mal mit einem gewaltigen Statement an, als eine Art Vorwarnung, dass egal wie nahe man an das Verständnis des Dao herankommt, es keine endgültige Schlußfolgerung geben kann. Wir befinden uns hier im Raum der Mystik. Der Ursprung der Schöpfung ist nicht vorstellbar. Eine Ähnlichkeit mit der biblischen Entstehungsgeschichte drängt sich natürlich auf. Bei chinesischen Bibelübersetzungen wird auch, laut Alan Watts, ein Bezug zum Dao hergestellt. Wobei man im Chinesischen auf Ikonisierungen komplett verzichtet. Auf klassischen Bildern erscheint der Menschen vorwiegend im Gesamtkontext der Natur. Nicht Schwerpunkt, sondern ein Teil und im Arrangement mit der Natur.

Dào: Urprinzip, der Weg, zu Sprechen, Urgrund aller Entitäten, Seinsgrund, seine Wirklichkeit vermittelt sich nicht allein über rationale Erfahrungen, sondern auch über nicht unmittelbar mitteilbare mystische geistige Prozesse. Damit wird sowohl die sichtbare und fühlbare, als auch die unsichtbar-metaphyische Welt miteinbezogen.

Taoismus bildet in der asiatischen Kultur eine Gegenkraft zum Konfuzianismus. Vereinfacht gesprochen wird das Zweitere mit Formalität, Tradition und geregelt-sozialen Strukturen in Verbindung gebracht. Der Taoist hingegen sieht diese Werte und Konzepte als unnatürlich an. Diese beiden Kräfte wirken miteinander und gegeneinander, ähnlich dem westlichen Liberalismus und Konservatismus. Wobei im Westen eher die jüngeren Generationen sich dem liberalen Ideen identifizieren, der Taoismus hingegen ist eine Lehre die von älteren Menschen praktiziert wird. Nach dem man auf der Bühne des Lebens mitgespielt und mit den Familiengeschäften abgeschlossen hat, folgt man nun Sinnfragen.
Dieser Rückzug passiert zunächst nach Innen, beinhaltet ein Ablassen von emotionalen Extremsituationen, sexueller Begierde und Statusdenken.

Der Begriff “WU WEI” gilt der “ego-freie” Wegweiser durch die taoistische Lebensführung. Es wird oft verwechselt mit “Nichts-tun”, oder einer passiven Lebenshaltung. Es geht hierbei jedoch um das Begreifen der Intension jeglicher Handlung. Eine bewusste Zurückführung und Besinnung was die Situation fordert und nicht welcher nächste eigennützige Wunsch befriedigt werden möchte. Eine Abkehr vom Selbstzweck.
Handlung, Handgriff, Anruf, Reise, etc. soll nur “aus sich heraus”, also dem natürlichen “Flow” herauskommen und nicht einer künstlichen und willentlichen Anstrengung unterliegen. Auch erzwungene Disziplin, Mitgefühl zeigen, anderen helfen und offenkundige Demut wären demnach nicht ego-frei. Man tut das, was getan werden muss. Nicht mehr und nicht weniger. Der taoistische Weg besteht zunächst daraus den eigenen Intensionen auf den Grund zu gehen und sich in Wu Wei zu üben.

Beitrag auf Quora